
Körperliche Verausgabung und Kellerbässe: Die andere Seite der Dortmunder Nordstadt / Foto: LJOE
Gettoisierung durch ärmste Zuwanderer aus Bulgariens härtestem Stadtteil: Stolipinowo. Drogenhandel. Illegale Prostitution. Horror-Häuser, Matratzenlager. Säufer und Junks, die wie Zombies durch die Straßen wandeln. Wie gefährlich ist denn nun diese berüchtigte Dortmunder Nordstadt, die es im Frühjahr 2014 sogar bis in die Seiten der New York Times geschafft hat?
Naja, denke ich, irgendwo muss der ganze Scheiß ja nun mal stattfinden. Wir sind ja auch in einer Großstadt im Ruhrgebiet und so langweilig und rund es im Süden Dortmunds läuft, so knallig, rau und wild zeigt der Norden seine Kanten. Nehmen wir die Brille des Schreckens einen Augenblick lang ab: Die oben genannten Ressentiments entspringen keiner realen Angst. Es ist eine klassich-imaginäre Angst vor dem Unbekannten. Denn wer Gartenzwerg-Romantik gewohnt ist, wird sich in den vollen Straßen der Nordstadt gleichwohl einsam fühlen. Das gleiche Gefühl wird euch allerdings auch beschleichen, wenn ihr zum ersten Mal die Vororte New Yorks erkundet, ebenso wie Los Angeles, Rio de Janeiro oder Kapstadt. Und wer mit einer derart negativen Erwartungshaltung durch die Nordstadt fährt, wie einige Dortmunder dies zur Zeit tun, der wird auch jedes seiner Vorurteile hier voll bestätigt finden. Aber macht mal einen Punkt. Wir reden hier über paar wenige Straßenzüge mit weniger als 400 Metern Gesamtlänge, die noch nicht einmal annähernd eurem dystopischen Bild entsprechen. Bei 14,5 Quadratkilometern Nordstadt von einer „allgemeinen No Go Area“ zu sprechen, wie es einige von euch gerne tun, ist echt hirnrissig.
Ich durchstreife täglich diese problematischsten Straßenzüge, bei Tag und in tiefer Nacht. Angst hatte ich noch nie. Wovor denn auch? Ein paar Säufer wollen saufen, ein paar Dealer wollen dealen. Ich will hier nur den besten Falafel der Stadt essen, da kommt man sich nicht in die Quere. An manchen Tagen kann es mal nerven, aber so ist das halt an Plätzen, an denen sich viele Menschen und Ethnien reiben. Und wer hier lebt, besitzt eh gesundes Ellenbogendenken. Die Nordstadt steht für ein ständiges Durch – und Übereinander der sozialen Schichten und der kulturellen Rituale, eine chaotische Verdichtung, eine Art Superkompression, die das Gegenteil von gepflegt-hochpreisigem Zombifikations-Urbanismus ist. Solch eine einerseits kosmopolitische, andererseits extrem verarmte Durchmischung sucht man in den südlichen Wohnarealen vergeblich.
Die Nordstadt ist das exzessive Zentrum der Stadt
Genau das sehen zum Glück auch viele andere so: Nicht umsonst ist die Nordstadt Dortmunds Kreativviertel Nummer Eins und neben all den Zombies auch ein Sammelpunkt für Schriftsteller, Journalisten, Künstler und Studenten. Junge Kreative finden hier günstige Ateliers oder transformieren im Handumdrehen eine ehemalige Alki-Kneipe in einen Club um, der mit Liveshows, Lesungen und fetten Hip Hop Parties seitdem aus allen Nähten platzt. Das Hafenviertel, mit den alternativen Anlaufstellen Subrosa, Sissikingkong, Rekorder und dem Gitarrenshop samt Kaffeebar Rockaway Beat, ist mittlerweile schon so hip geworden, dass man an lauen Abenden den Eindruck hat, man sitze in Berlin Kreuzberg herum. Hier wird die Gentrifizierung als nächstes zuschlagen. Richtung Nordmarkt leuchtet allabendlich der Salon FINK mit seiner urgemütlichen Gastro, seinen Konzerten und guten Parties und das Roxy Kino, Nordpol, Langer August oder das Spitzenrestaurant Jankas leisten beste Gesellschaft. So viele Konzerte, Lesungen, Poetry Jams und DJ Sets wie diese handvoll Locations in der Nordstadt gemeinsam auf die Beine stellen, gibt es im gesamten Dortmunder Süden nirgends. Die Nordstadt ist das exzessive Zentrum der Stadt und steht im totalen Kontrast zu den anderen Stadtteilen, in denen das intensivste Erlebnis die ins Fleisch schneidenden Henkel der Louis Vuitton Tasche sind. Vom Hafen bis zum Borsigplatz tummelt sich von Gallerie über Nordstadt-Theater bis Kreativkaufhaus alles durcheinander, also WHAT THE FUCK? No Go Area? So einen Blödsinn muss man erst einmal verzapfen. Wieso sich so viele Menschen vor dem pulsierendsten Stadtteil Dortmunds verschließen wird mir immer ein Rätsel bleiben.
Die Nordstadt hat krasse Probleme, keine Frage. Angst und Schrecken erzeugende Titel wie „Alarm im Getto Dortmund-Nord“, wie Hendrik Ankenbrand letztes Jahr in der FAZ titelte, sind für uns Dortmunder aber auch keine Lösung, wenn auch ein politisches Wachrütteln. Da ist das Engagement der Nordstadtblogger, einem Verbund freier Journalisten, die positiv wie kritisch direkt aus dem Kiez bloggen, schon wesentlich angenehmer und vor allem wichtiger. Gegen Heroinspritzen auf Kinderspielplätzen, illegale Prostitution, Schlepperbanden und Arbeiterstrich hilft kein Rumgejammer und „No Go Area“ Geschrei. So etwas in den Griff zu bekommen ist harte Vor-Ort-Arbeit und muss zudem von höchster EU Ebene finanziell unterstützt werden, die mit der positiven Idee einer Osterweiterung einen erheblichen Teil dieses Problems verursacht hat.
Ihr solltet aber nicht darauf warten, bis andere für euch sauber gemacht haben. Denn dann habt ihr garantiert die Party verpasst. Von einem Angstviertel sind wir nämlich weit entfernt: immer wieder bemerken europäische Bands, die mit uns durch die Nordstadt laufen, dass die Nord-Viertel in Paris, Amsterdam, Rotterdam oder wo auch immer sie herkommen und leben tatsächlich viel krasser sind. Man wird halt einfach etwas bodenständiger, wenn man hier schlendert. Das Leben in der Nordstadt kann aufreibend sein und hält dich garantiert wach. Menschen wie ich erleben es als erfrischendes Peeling, andere scheitern daran. Nirgendwo in Dortmund liegen Aufleben und Frustration, Ekstase und totale Erschöpfung, Würde und Pietätlosigkeit so nah beieinander wie hier. Und desto öfter ich hier bin, werde ich das Gefühl nicht los, dies ist der einzige Ort in der Stadt, der überhaupt irgendwie lebt.
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