Journalisten der ZEIT entwerfen dystopisches Bild der Nordstadt

Willkommen in der Nordstadt. / Foto: Tomek / Flickr / License: CC BY-NC-ND 2.0

Fünf Polizeiwagen rasen auf den Nordmarkt, Beamte springen heraus, die Häuserfassaden sind abends oft in sanft rotierendes Blaulicht getaucht. Eine Messerstecherei, eine Drogenrazzia, eine Rivalität unter Banden. Nur eine Frage der Zeit, bis auch die große Hamburger Wochenzeitung die Zeit sich in der Nordstadt mal umschaut. Was dabei jedoch herausgekommen ist, ist einfach völlig absurd.

Der Bereich rund um die Mallinckrodtstraße, Schleswiger Straße und Missundestraße ist nicht mehr als ein städtisch kontrolliertes Sammelbecken für die ärmsten Geschöpfe der Stadt; aufgegeben, zurückgelassen und vor allem sich selbst überlassen. Dortmunds Problembezirk ist mittlerweile weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt, nicht zuletzt durch die reißerischen Reportagen der  FAZ mit dem Titel „No-Go-Area Dortmunder Nordstadt: Dealen im Schichtdienst„. Nun also hat vor nicht mehr als drei Wochen die ZEIT zwei Journalisten und einen Fotografen ganze drei Wochen lang in der Nordstadt einquartiert, und was die dort so alles zu Gesicht bekommen haben, scheint an Dystopie nicht mehr zu toppen zu sein.

Das dunkelste, absurdeste und übertriebenste Bild, welches man aus dem Hut zaubern kann

In der aktuellen Ausgabe der ZEIT (19/2017) veröffentlichten die Journalisten Nadine Ahr und Moritz Aisslinger das wohl dunkelste, absurdeste und übertriebenste Bild, welches man aus dem Schlagwort „Dortmunder Nordstadt“ wohl aus dem Hut zaubern kann: Ein fast dreiseitiges Dossier begleitet einen ex-Nazi und Alkoholiker und seine Crackfreunde durch den Nachmittag, einen Horror-Haus-Jungen durch seinen morgendlichen Gang zur Schule sowie einen leitenden glatzköpfigen Polizeihauptkommissar, der sich selbst als Libanesen-Jäger bezeichnet. Glückwunsch, liebe Zeit, besser hätte man es wirklich nicht machen können. Wenn denn also der guten Frau Ahr und Herrn Aisslinger für diese Meisterleistung nicht einer ihrer allem Anschein nach heiß begehrten Journalistenpreise verliehen wird, dann ist ihnen zumindest der Verkauf ihres Artikels als Drehbuch für einen neuen Mad Max Film sicher.

Das also kommt dabei heraus, wenn man zwei Journalisten der Zeit in die Nordstadt schickt? Ich bin ziemlich enttäuscht, und das als jahrelanger Leser dieser eigentlich guten Zeitung. Ganze drei Wochen haben sie damit verbracht, um ein detailiertes Abbild des „Drogen-Supermarktes“ auf der Mallinckrodtstraße aufzuzeichnen: Hier gibt´s das schlechte Kokain, hier gibt´s das Haschisch für fünf und das Gras für zehn Euro, dort drüben gibt´s das bessere Kokain. Aha. „Habt ihr Rivos?„, fragen in der Reportage ein paar Jugendliche und den anscheinend ziemlich ramponierten ex-Nazi „Ötzi“. Dieser antwortet:“ Nee. Müsst ihr zu den Türken gehen.“ Aha.

Roma-Jungs treten als Spiel gegen Mülltonnen und schlagen auf flüchtenden Ratten ein. Aha. Oder besser Haha? Mit einer derart schwarzen Brille auf der Nase kann ich auch den Berliner Prenzlberg noch zur No-Go-Area runterschreiben. Ich wandel nun wirklich seit mehreren Jahren fast täglich durch genau diesen Kiez und habe auch schon viel Scheiß gesehen (Gruß an Pfarrer Schocke) und auch der Zombie-Begriff ist auf diesem Blog schon gefallen. Was die Zeit hier jedoch als Bild von Dortmunds Norden für ihre 500.000 Leser zeichnet, macht den Anschein, als wollte man diesen Teil Deutschlands nun vollends als hoffnungslose Favela abstempeln. Entweder also kommen die beiden Journalisten aus bestem Hause und sind bisher glücklicherweise von jeglicher Großstadt-Reiberei verschont geblieben. Glaube ich aber nicht. Dann aber handelt es sich allem Anschein nach um die wohl absurdeste Reportage, die ich seit langem lesen durfte.

Desto tiefer sie in der Nordstadt nach dem Dunklen suchen, desto mehr positive Absichten und Projekte schlagen ihnen entgegen

60.000 Menschen leben in der Nordstadt. Das Dossier von Ahr und Aisslinger skizziert das asoziale Treiben, welches in nur einem Straßenzug stattfindet und blendet dabei alles, aber wirklich alles aus, was die restlichen Menschen auf den 14, 4 Quadratkilometern Nordstadt so treiben. Vielleicht hätten sie sich auch mal Ötzis Kiosk am Nordmarkt besser anschauen sollen. Dann hätten sie festgestellt, dass es hier weder Zigaretten noch Alkohol zu kaufen gibt. Stattdessen ist der unübersehbare orangene Kiosk eine Kontaktstelle für Nordmarkt-Nutzer und Straßensozialarbeit, betrieben von Passgenau, einem Projekt der Diakonie Dortmund. Hier gibt es auch eine Suchtberatung und Kontakt zum mobilen medizinischen Dienst des Gesundheitsamtes. Langsam müsste es den beiden dämmern: Desto tiefer sie in der Nordstadt nach dem Dunklen suchen, desto mehr positive Absichten und Projekte schlagen ihnen an allen Ecken entgegen. Ich kann nicht über die verfallenen Fassaden und Horrorhäuser schreiben, ohne das Schüchtermanncarree auf der Mallinckrodtstraße zu erwähnen. Hier hat die Julius Ewald Schmitt Grundstücksgesellschaft an der Ecke Bornstraße / Mallinckrodtstraße einen Jugendstil-Wohnblock mit insgesamt 26 Häusern komplett renoviert. Eine wunderschöne Fassade, saubere Hausflure und großzügige Altbauwohnungen werten diese Brennpunktkreuzung extrem auf. Ich kann nicht von Spritzen und Dreck am Nordmarkt berichten , ohne zu erwähnen, dass eben dieser Dreck jeden Tag von Mitarbeitern von Passgenau aufgehoben und entsorgt werden, einem Projekt, welches Langzeitarbeitslose in diese Arbeit einbindet. Ich kann nicht über die Ticker auf dem Nordmarkt schreiben, ohne zu erwähnen, wie das Grünflächenamt die Büsche stark beschneiden oder abtragen lässt. „Eine Präventionsmaßnahme, um Drogenverstecke in der Umgebung zu vermeiden“, so berichtet man mir.

Primitiv und eindimensional

Das einseitige Bild, welches Frau Ahr und Herr Aisslinger hier vom Drogenkiez Dortmund zeichnen und wild als „Nordstadt“ titulieren, ist so primitiv wie eindimensional. Mehr noch, es untergräbt jegliche Mühen der gefühlt hunderte Projekte, die hier tagtäglich ihre Arbeit verrichten, um das Image des Stadtteils tatsächlich zu wandeln. Eine Zuarbeit seitens der Zeit wäre hilfreich gewesen, stattdessen schaffen es zwei gestandene Journalisten der angesehenen Wochenzeitung in drei Wochen gerade mal, die Preise und Standorte des lokalen Drogenmarktes zu erörtern, wie man ihn auch in jeder größeren Stadt im Sauerland antreffen kann. Da scheinen sie fast traurig, wenn man die Dealer mit nur vier Gramm Gras in der Tasche erwischt und nicht in Handschellen abführen kann. Nicht reißerisch genug! Gott sei Dank haben sie dann ja noch Polizeihauptkommissar Wick als Ass im Ärmel, der sich zur Peinlichkeit aller Ordnungshüter dann tatsächlich öffentlich als Libanesen-Jäger bezeichnet. Dass unser OB Ullrich Sierau, hemdsärmelig wie er ist, da im Gespräch sprichwörtlich der Kragen platzt – wen wundert´s noch. 

Bjoern Hering

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2 comments on “Journalisten der ZEIT entwerfen dystopisches Bild der Nordstadt”

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