Unterwegs in Dortmunds geheimnisvoller Unterwelt


Er ist seit acht Jahren fast jede Nacht in unterirdischen Systemen unterwegs. In seiner Heimatstadt Dortmund kennt er so gut wie jeden geheimen Tunnel unter der Erde, es sollen an die 1000 sein. Er findet es hier unten sogar so schön, dass er am Liebsten an diesen verborgenen Orten übernachtet. 

Angefangen hat für Matze alles in Paris. Als er im Alter von 14 Jahren für kurze Zeit nach Frankreich geht, nehmen ihn seine Bekanntschaften mit auf eine Expedition in die Pariser Unterwelt. Die neuen Freunde gehören den Cataphiles an, eine Gruppierung, die mit Vorliebe die 300 Kilometer Katakomben unter der französischen Hauptstadt illegal betreten und erkunden. „Unter Paris ist alles miteinander verbunden“, erzählt uns Matze. „Von den Katakomben geht es in die Kanalisation, von dort in die Kabelschächte und weiter in die U-Bahn.“

„Wenn es eine unterirdische Stadt geben würde, würde ich darin leben wollen.“

Zurück in Dortmund und von den Erlebnissen mit den Cataphiles infiziert, bekommt er einen völlig neuen Blick auf die Stadt und ihre verborgenen Geheimnisse. Wer erkundet, der entdeckt plötzlich Türen und Eingänge hinter denen verborgene Welten existieren, so auch in Dortmund. Das Recht auf Stadt wird sein Antrieb: Ein Recht auf das sich eine ganze Urban Explorer Szene beruft, wenn sie davon sprechen, sich abseits der Gehwege umzuschauen, die Stadt im Ganzen wahrzunehmen und ihre verborgenen Geheimnisse zu entdecken. Über Jahrhunderte wird eine urbane Landschaft verändert, demontiert, abgerissen und überbaut. Alte Netze verbinden sich mit neuen Netzen, darüber liegt das moderne Netz Stadt, das nahtlos mit ihr verwoben scheint. Begeistert startet Matze seine ersten Erkundungstouren.

Das ist jetzt acht Jahre her. Seitdem ist er nahezu jede Nacht unter der Stadt unterwegs, gehört einer gut organisierten Gruppierung von Unterweltlern an und erkundet auch den Rest des Ruhrgebiets – und weit darüber hinaus. „Wenn du mich fragst, wieviele Tunnel es unter Dortmund gibt die länger als zwei Kilometer sind, würde ich sagen es sind mehr als 100.“ Er spricht von Kabeltunneln, alten Versorgungschächten, Bergbaustollen und Bunkersystemen, von denen der Tiefstollen unter Dortmund einer der berühmtesten Anlagen in Europa ist. In ewige Dunkelheit gehüllt durchziehen diese unsichtbaren Adern unsere Stadt und sind stumme Zeugen aus vergangenen Zeiten: Genutzt, verlassen, zugemauert und in Vergessenheit geraten.


Viele Urbexer erliegen dem Charme vergessener und verwuchteter Orte, den Lost Places. Ganze Szenen geben sich hier die angerostete Klinke in die Hand: Urbexer, Lost Place Fotografen, Sprayer oder auch Geo-Cacher. Für Matze wird schnell klar, dass er mehr will als nur verlassene Orte zu besuchen. Er will das ganze System einer Metropole verstehen und begehen: Infiltration ist dafür der Fachbgriff und bezeichnet den Aspekt der Stadterkundung, der sich mit dem unbemerkten Eindringen in die aktiven Systeme einer Stadt in gesicherte und genutzte Gebäudeteile beschäftigt. Über Kabel und Leitungen oder auch Zu- und Abwassersysteme sind zahlreiche Anlagen miteinander vernetzt, zum Teil kilometerlang. Unter dem Synonym Shadows Of Dortmund dringt er in die geheimen Tunnel ein. Hier unten zu wandeln ist seine Welt: „Wenn es eine unterirdische Stadt geben würde, dann würde ich darin leben wollen.“

Urban Exploration (kurz: Urbex) bezeichnet die private Erforschung von Einrichtungen des städtischen Raums und sogenannter Lost Places. Oftmals handelt es sich dabei um das Erkunden alter Industrieruinen, aber auch Kanalisationen, Katakomben, Dächern oder anderer für die Öffentlichkeit unzugänglicher Räumlichkeiten ungenutzter Einrichtungen. Als Infiltration bezeichnet man dagegen das unbemerkte Eindringen in genutzte und gesicherte Gebäudekomplexe.


Bis zu dem Treffen mit den Last Junkies On Earth gibt es Vorgespräche unter den verschiedenen Unterwelt-Gruppen. „Wir entscheiden alles basisdemokratisch. Dass wir uns mit Journalisten treffen und frei sprechen ist nicht die Normalität.“ Uns schenken sie ihr Vertrauen und nehmen uns mit auf eine Reise unter die Stadt. Hinab in ihre Welt.


„Die Polizei sieht nur ein paar Typen, die aus einem Gullideckel steigen. Was da aber für eine Vorbereitung hinter steckt wissen die wenigsten.“

Bevor sie in die verborgene Unterwelt hinuntersteigen gehen lange Vorbereitungen und Recherchen voraus. Wenn die Gruppenmitglieder das System nicht kennen steigen sie auch nicht ein, denn ein Fehler hier unten kann unter Umständen tödlich sein. Stadtarchive, Internet, Gespräche mit Gleichgesinnten, Kartenmaterial oder der ein oder andere Kontakt zu Behördenmitarbeitern – alles kann nützlich sein: „Wir erstellen professionelle und sehr detaillierte Karten der Systeme. Wahrscheinlich haben wir weitaus besseres und für den Ernstfall brauchbareres Kartenmaterial als die zuständigen Behörden.“

Vor jedem Einstieg wird ein Notfallplan erstellt und der Ablauf besprochen. Ist es möglich, dass ein vermeintlich kleiner Fluß untertage durch plötzlich eintretenden Regen oder eine Schleusenöffnung geflutet werden könnte? Sollte jemand aus Angst nicht weiter wollen kehrt die Gruppe zurück. Es gibt Wärmeschutz-Kits, Notfallkontakte und nahezu jeder bringt eine Ersthelferausbildung mit. „Wenn da unten etwas passiert, bist du auf deine Mitstreiter angewiesen und falls du aufgrund einer Verletzung nicht mehr zurück kannst, ist Unterkühlung eine der unterschätztesten Gefahren. Außer in einem Tunnel mit Fernwärme“, lacht Matze, „da ist es auch im Winter angenehme 30 Grad warm.“ Dann ist es soweit. Mit einem 5-Gaswarner mit Sauerstoff, Methan, Schwefelwasserstoff, Kohlenstoffdioxid sowie Kohlenstoffmonoxidsensor, Lifesafer- Kits, Atemschutzmasken, Sicherheitschuhen und diversen Werkzeugen geht es durch einen geheimen Zugang in die Tiefe. „Ein Ammoniak-Tester wird gerade bei den Abwassersystemen immer wichtiger.“


An der Oberfläche sehr gut gesicherte Gebäudekomplexe haben in der Tiefe fast freien Zugang zu kritischen Systemen, die die Sicherheit der Bevölkerung gefährden können.

Durch seinen Erfahrungsschatz bezeichnet man Shadows Of Dortmund in der lokalen Szene mittlerweile als einen der Besten, auch wenn er dies nie von sich behaupten würde. Seine Kontakte erstrecken sich über Kiev bis zu Gruppen in Australien. So sozial er in diesem Netzwerk agiert, so zurückgezogen ist er im echten Leben. „Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt. Typen, die in der Schule eher schüchtern waren finden hier unten Gleichgesinnte, Freunde und vor allem: Ruhe.“ Die Wahl seines Synonyms spiegelt dies wieder, denn auf den Fotos seines Instagram-Accounts ist er zu 95 % nur als Schattenbild zu sehen. Das ist die künstlerische Seite, die er mit seinem extremen Hobby verbinden möchte. „Ich stehe nicht drauf mich selbst darzustellen. Shadows of Dortmund steht für alle Menschen in dieser Stadt.“ Angst erwischt zu werden hat er nicht. „Für mich ist das mein Leben, es steckt in meiner DNA. Ich habe nicht das Gefühl, etwas illegales zu tun. Wir sind keine Einbrecher die in Privaträume eindringen, sondern möchten bloß die leeren Tunnel anschauen und begehen dürfen, die vergessen unter der Stadt liegen. Für unsere Sicherheit garantieren wir schon selbst. Unterweltler wollen auch nichts zerstören. Wenn die Maßnahmen zur Sicherung besser wären, wären wir nicht da unten.“

Anschließend berichtet man uns wie lapidar die Schutzvorkehrungen oftmals sind. Die Tunnel unter der Stadt führen die Gruppe immer wieder an Orte an denen sie selbst überrascht sind, wie einfach sie in Objekte eindringen in denen sie auf gar keinen Fall stehen dürften. An der Oberfläche sehr gut gesichert haben die Unterweltler in der Tiefe fast freien Zugang zu kritischen Gebäudekomplexen und Systemen, was die Sicherheit der Bevölkerung gefährden könne. Aus Verantwortung werden wir nicht weiter beschreiben, um welche Gebäudearten es sich handelt. „Hier sollten die Behörden statt Strafverfolgung anzuwenden lieber dankbar sein, dass wir da unten nach dem Rechten sehen. Außer uns gibt es nämlich anscheinend niemanden der aufpasst, wer da alles mit welchen Absichten durch die Tunnel marschiert.“


Shadows of Dortmund sieht sich als White Hat Hacker in der Geologie der Großstadt. „Ich habe in den letzten acht Jahren sehr viel Fachliteratur über Geologie und Chemie gelesen. Mittlerweile kann ich gut einschätzen wie sicher es da unten ist.“ Ein Mitstreiter von ihm hat schon einmal einen einsturzgefährdeten Bereich entdeckt und bei den entsprechenden Behörden gemeldet. „Wie schon gesagt, eigentlich können die Verantwortlichen froh sein, dass es uns gibt. Was passiert, wenn man sich zu wenig kümmert sieht man an der abgesackten Emscherallee in Dortmund Huckarde.“

White Hat Hacker nutzen ihr Wissen, um über Sicherheitslücken in Computersystemen hinzuweisen und aufzuklären, anstatt sie für bösartige Angriffe zu nutzen.



„Das Sicherheitspersonal erkennt man eigentlich sofort. Deren Lampen sind meist nicht so gut wie unsere.“

Bei einem Abstieg in die Tunnel unter der Stadt hat er einmal drei Jugendliche gefunden, die nur ein Smartphone als Lichtquelle bei sich trugen. „Die habe ich dann wieder rausgebracht.“ Bei ihren Expeditionen stoßen die Unterwelter immer wieder auf Einstiege, die im Gebüsch nur mit einer Spanplatte gesichert sind. Darunter geht es in die Tiefe. Nicht auszudenken was passieren könnte, wenn hier einmal spielende Kinder das Geheimnis eines Einstiegs lüften. Daher plädieren Matze und einige andere Personen aus der Szene für einen offeneren Umgang der Dortmunder Behörden mit ihren unterirdischen Netzwerken. Denn eine Genehmigung zum Begehen der Stollen und Anlagen zu bekommen ist so gut wie unmöglich. Eine Vereinsgründung könnte da schon helfen: Ähnlich wie die Berliner Unterwelten, die seit Jahren Führungen in Bunkeranlagen und alten Stadtbahnsystemen anbieten, könnte auch die lokale Unterwelt-Szene die Eingänge sichern, eine Genehmigung für einen ständigen Zugang erhalten, die Anlagen pflegen sowie öffentliche Führungen anbieten.

Das historische Erbe unter Dortmund soll für alle greifbar sein. Dafür möchte Shadows of Dortmund kämpfen. Unter der Dortmunder Innenstadt befindet sich nämlich der wohl größte Luftschutzstollen Europas mit einem Labyrinth aus Gängen von ehemals acht Kilometern, von denen circa 4,7 Kilometer noch existieren. Statt aber mit interessierten Hobbyisten an einem Tisch darüber zu sprechen, schweigt die Stadt das dunkle Geheimnis systematisch tot. Das große Schweigen über die gigantische Anlage erklärt sich zum Teil aus ihrer Entstehung, denn zum Ausbau wurden hauptsächlich Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge eingesetzt, die während der Bombardements das System verlassen mussten, um mehr Platz für die Bevölkerung zu schaffen. Ein historisch unangenehmes Erbe, dessen Besitztums- und damit Eigentümerfrage unmöglich zu klären scheint: Ein Erlass verbietet, „Informationen über den Stollen, die bei allgemeinem Bekanntwerden die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden können“, herauszugeben (WAZ).


Bedenken, dass mit einer Vereinsgründung ein Teil der Geheimnisse und des Nervenkitzels verlorengehen könnte, hat Shadows of Dortmund nicht. Es gibt zu viele Tunnel, die niemals für die Öffentlichkeit interessant sein könnten, denn niemand möchte durch Abwassertunnel und teilweise nur 40 Zentimeter große Öffnungen in völliger Dunkelheit krabbeln. Wie erkennt er da unten eigentlich, ob ihm andere Unterwelter oder das Sicherheitspersonal entgegenkommen, wollen wir wissen. Lächelnd winkt er ab: „Das Sicherheitspersonal erkennt man eigentlich sofort. Deren Lampen sind nicht so gut wie unsere.“


„20 Kilometer untertage Laufen ist nicht ungewöhnlich – oft in der Hocke, robbend oder kriechend.“

In manchen Nächten steigt Shadows of Dortmund hinab in seine Welt, spannt seine Hängematte in die vergessenen Gänge, schaltet die Lampe aus und lauscht die restliche Nacht dem Tropfen des Wassers. Was geht einem für ein Gefühl durch den Kopf, wenn man nach Stunden unter der Stadt frühmorgens wieder an die Oberfläche krabbelt, wollen wir zum Ende des Gesprächs wissen. “Was wir machen ist schon sehr anstrengend. Meist geht es spätabends in die Tiefe. 20 Kilometer untertage Laufen ist dann nicht ungewöhnlich – oft in der Hocke, robbend oder kriechend und am Ende ist man sehr erschöpft.“


Alle Fotos (c) Shadows of Dortmund

Bjoern Hering

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