Street Art & Urban Culture in Israel – eine Führung durch die Straßen von Tel Aviv

Guy Sharett führte Didi Stahlschmidt durch die Street Art Szene von Tel Aviv / Foto: D. Stahlschmidt

Das Viertel Florentin im Süden von Tel Aviv ist ein künstlerisch-kultureller Hotspot der Street Art und Kulturszene Israels. Der Dortmunder Journalist Didi Stahlschmidt hat sich für Last Junkies On Earth mit einem Szenekenner durch diesen spannenden Ort führen lassen.

Von Didi Stahlschmidt
Tel Aviv. Es ist Mittagszeit. Während das bunte Treiben in den Straßen und Gassen seinen gewohnten Gang geht, entdeckt man plötzlich Mister Burns. Großflächig, bunt und davor steht ein Mann mit vermeidlichem Turnbeutel und blauen Sportschuhen. Er zeigt auf kleinere Details des Kunstwerks und erklärt ihre Bedeutung. Es ist Guy Sharett, einer der führenden Experten des Landes in Sachen Street Art und Urban Culture.

„Der öffentliche Raum ist wie eine Sprache. Und diese gibt es in unterschiedlichen Arten und Formen“ erklärt Sharett. „So gibt es zum Bespiel die aussterbenden Geräusche, wie die eines Matratzenmachers“ und zeigt dabei spontan in einen kleinen, zurückgesetzten Laden, wo ein älterer Herr Matratzen mit der Hand herstellt. Guy Sharett bezeichnet sich selber als „Sprachenlehrer“, der versucht, die Sprache der Kunst und die Kunst der Sprache zu verbinden. Er versteht dabei die Sprache der Straße weit über das eigentlich gesprochene Wort hinaus und entschlüsselt bzw. übersetzt selbige. Zugleich verbindet er diese Aufgabe mit Workshops oder Führungen durch den öffentlichen Raum. So wie heute, mit einer kleinen Delegation aus Deutschland.

Guy Sharett führte eine Delegation aus Deutschland durch das bunte Viertel Florentin / Foto: D. Stahlschmidt

»Die Florentiner Szene wird von der Stadt geduldet. Obwohl offiziell illegal, drücken sie ein Auge zu« (Guy Sharett)

Generell sei es so, dass Graffiti zwar illegal sind, aber wohlwollend geduldet werden. Viele haben hier ein Verständnis dafür entwickelt, dass Street Art & Graffiti sehr wohl eine Kunstform sind. Und auch, dass eine hässliche Wand durch bunte Farben ehr aufgewertet wird als zerstört wird. Sharett betont hierbei vor allem die friedliche Co-Existenz der verschiedenen Stile und deren Künstler, die sich positiv beeinflussen. Die facettenreiche Kunst im öffentlichen Raum bedient sich jeder haptischen Version, die machbar oder möglich ist. Neben kleinen Flokatie-Eck-Instalationen oder Figuren aus Kindersteckspielen gibt es auch immer wieder Kunst zum Anfassen. So auch die bunten, abgesetzten Keramik-Enten an unzähligen Häuserwänden. „Die Enten-Population schrumpft“ schmunzelt Sharett und erklärt, dass die bunten Tonenten zwar über die ganze Stadt verteilt sind, aber auch gerne von Leuten mitgenommen werden.

„Die Schönheit der Straßenkunst liegt teilweise in ihrer Fähigkeit, verschiedene Bedeutungen für jedes Stück zu tragen“ unterstreicht Sharett. Jeder Künstler wird inspiriert, etwas Persönliches zu schaffen, das in vielerlei Hinsicht interpretiert werden könnte. Dabei ist ein Prinzip so schön wie ungewöhnlich – die sogenannte „Street Art Höflichkeit“: Wenn ein kleineres Kunstwerk bereits geschaffen ist, wird der nächste Künstler das Original bewahren und seine Schöpfung um sie herum integrieren.

Diese illegal auf Wände montierten Enten haben in ganz Tel Aviv eine große Fangemeinde / Foto: D. Stahlschmidt

»Die Sprache auf den Straßen ist niemals nur „Sprache“. Es ist immer mit Kultur, Politik, Religion, Gesellschaft und Geschichte verbunden. Und die Straße bietet uns dabei die ganze Geschichte« (Guy Sharett)

An verschiedenen Plätzen, Wänden, Vorsprüngen oder bemalten Telefonzellen vorbei, verbindet er die Führung durch das Viertel Florentin durchgehend mit sehr ausführlichen wie interessanten Erläuterungen, mit teils wissenschaftlichem Anspruch, teils mit witzigen Anekdoten gespickt und durchweg hoch kompetent und vor allem witzig und charmant. Dabei erwähnt er immer wieder die Bedeutung des eigentlichen Viertels. Florentin, eine Nachbarschaft im südlichen Teil von Tel Aviv, wurde nach einem griechischen Juden namens David Florentin benannt und war einst ein heruntergekommener Teil der Stadt. Heute zieht Florentin eine Vielzahl von jungen, urbanen Individuen an, die im kulturellen wie gesellschaftlichen Kontext den Flair des Viertels positiv mitprägen. Ein künstlerisch-kultureller Hotspot, der im Laufe der Führung immer deutlicher, immer spannender wird.

Die facettenreiche Kunst im öffentlichen Raum bedient sich jeder haptischen Version, die machbar oder möglich ist / Foto: D. Stahlschmidt

Ein besonderer Höhepunkt ist hierbei die Führung durch die Handwerkergassen des alten Florentin. Das alte, original beibehalten Handwerks-Carré aus unzähligen alten Hinterhofwerkstätten hat den Charme eines alten Basars – bei dem aber fast keine Wand ohne irgendeine eine Art von Urban Street Art gestaltet ist. Bis hin zu großflächigen Wandmalereien, die schon als Hintergrund für Musikvideos oder Werbespots dienten. Das Handwerker-Viertel zeigt hierbei eine ganz besondere Art der „Kunst-Symbiose“. Da viele hier mit Holz oder Metal arbeiten ist es schon immer so gewesen, dass die Betriebe ihre „Abfälle“ vom Holzbrett bis zur Eisenstange abends vor die Tür stellen und die Künstler diese dankend mitnehmen.

Verfall zieht auch hier junge Künstler an / Foto: D. Stahlschmidt

»Wie Kreuzberg und Neukölln, Lower East Side in New York und das Marais in Paris verändert sich Florentin. Einige Leute sind glücklich darüber, einige weniger. Die Straßenkünstler werden wahrscheinlich weiter nach Süden und Osten ziehen.« (Guy Sharett)

Leider ist aber die Zukunft dieses einzigartigen Kreativviertel unklar. Genau so unklar, wie oftmals die Eigentumsverhältnisse der kleinen Werkstätten. „Es steht zu befürchten, dass hier ein weiteres Monster entsteht“, sagt Sharett und zeigt dabei auf eine Hochhauskulisse hundert Meter entfernt. Doch schnell wendet er sich wieder der Kunst zu und zeigt uns auf der einen Strassenseite ein Wandbild in Braille-Schrift (nennt man umgangssprachlich auch Blinden-Schrift). Ein paar Meter weiter bleibt er schmunzelt stehen und deutet auf eine israelische Fahne mit arabischen Schriftzeichen, die künstlerisch den gewünschte Frieden reflektiert. Schön Idee!

Auf dem letzten Teil der Führung stehen wir am Rande des Viertels Florentin plötzlich wie aus dem Nichts vor einer zwischen zwei Häuserblocks eingepferchten Freifläche in der Größe von etwa zwei Tennisplätzen. „Urban Gardening“ so Sharett und verweist auf die unterschiedlichsten Kleinflächen auf dem Areal. Obst, Gemüse, Kräuter, Duftpflanzen und vieles mehr ist dort liebevoll angepflanzt worden und für jeden zugänglich – ohne dass auch nur ein Beet oder eine Pflanze Schaden davon getragen hat. Eine friedliche, unbeschadete kleine grüne Oase, die mit den ihren Düften und Farben genau so Teil der Urban Street Art ist.

Die friedliche Co-Existenz der verschiedenen Stile sind hier deutlich zu erkennen / Foto: D. Stahlschmidt

Fast jeder Platz ist hier mit irgendeiner Art von Straßenkunst gesetzt bzw. belegt und Vergleiche mit Paris, Berlin oder New York sind sehr wohl berechtigt. Hier ist man schnell wieder bei den Eingangsworten von Guy Sharett. Es sei wichtig, allen unterschiedlichen Facetten im öffentlichen Raum Beachtung zu schenken. Das gilt in Tel Aviv vor allem für Street Art jeglicher Form, die hier in ganz besonderer Art & Weise erlebbar, ertastbar, spürbar, ja sogar riechbar sind und einem jeder Zeit ein kleines Lächeln aufs Gesicht zaubert.

Weitere Informationen zu Guy Sharett und dem Thema unter:

www.streetwisehebrew.com | www.facebook.com/ilovecorners

Guy Sharett hat polnische Wurzel und seine Großmutter wohnte in Dortmund | Er selber hat zuvor viele Jahre bei google gearbeitet, fand den Job aber zu langweilig. Nun lebt er als „Sprachlehrer“ für den öffentlichen Raum, gibt Workshops, macht Führungen und hat einen sehr erfolgreichen Blog | Sharett spricht mit Hebräisch, Niederländisch, Italienisch, Französisch, Arabisch, Deutsch und Englisch insgesamt sieben Sprachen, wenn auch nicht alle fließend.

 

Bjoern Hering

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